- Pico della Mirandola und Agrippa von Nettesheim: Von der Magie zur Wissenschaft
- Pico della Mirandola und Agrippa von Nettesheim: Von der Magie zur WissenschaftSeit dem Mittelalter hat es immer wieder Krisen des Selbstvertrauens gegeben, die sich in Ketzerbewegungen äußerten und zur Abkehr von der Verweltlichung des menschlichen Daseins aufriefen. Zunächst waren die Denker der Renaissance davor gefeit, denn sie hoben ja gerade die Macht des Menschen über sein Schicksal innerhalb eines unerschütterten Vertrauens in den christlichen Gott hervor. Aber die neue Gelehrsamkeit mit ihrer Vielzahl an Perspektiven brachte auch Verunsicherung mit sich. Große Mengen an neuem Wissen und Wissenszweigen waren entstanden, von den Sprachen und Literaturen über die Geschichte und Archäologie, außerchristlichen Religionen und Philosophien bis hin zur empirischen Bestandsaufnahme der Natur. Eine Instanz, die wissenschaftliche Autorität besessen hätte zu sagen, was wahr und nützlich ist, war nicht in Sicht. Schon im scheinbar geschlossenen mittelalterlichen Denken hatte man vergeblich versucht, Neuerungen zu unterbinden. Auch die kirchlichen Verfahren gegen Häretiker wie Tommaso Campanella und Giordano Bruno im 16. Jahrhundert waren in der Sache weitgehend erfolglos geblieben. Sie zeigten aber den Grad der Verunsicherung an, der durch die neue theologische Konkurrenz der Protestanten noch verschärft worden war.Nicht nur die Vielfalt neuen Wissens verlangte nach neuen Ordnungsmethoden, es wurden auch Denkformen wiedererweckt, die neue »Systeme« ermöglichten. Allen voran das neuplatonische Denken, das die Welt als Einheit ansah, die aus einem Schöpfergeist hervorgegangen und von ihm durchdrungen sei. Viele Denker wendeten dieses Modell auf die Natur und Kosmologie sowie die Seelenlehre an, darunter Nikolaus von Kues, Marsilio Ficino und Bruno, sodass ihre Naturtheorie durchaus als Pantheismus oder Panpsychismus (Allbeseelung) gelesen werden konnte. Hinzutraten Weisheitslehren wie der Pythagoreismus, die Chaldäischen Orakel und die Kabbala.Durch den lateinischen Schriftsteller Lucius Apuleius war im 2. Jahrhundert n. C. ein Traktat »Asclepius« bekannt geworden, in dem der angebliche ägyptische Weise Hermes Trismegistos (»Hermes der Dreimalgrößte«) eine Weltentstehungs- und Religionslehre vorträgt. Im 15. Jahrhundert tauchten dann weitere »hermetische« Schriften auf, die vor allem auch astrologische Lehren enthielten. Da dieser Hermes aus Ägypten stammte, wo nach biblischem Zeugnis selbst Mose gelernt hatte, kam ihm höchste Autorität zu. (Zwar tauchten später Zweifel an der Echtheit dieser Schriften auf, aber vorerst war das ideologische Alter wichtiger als die Chronologie.) Auch die Schriften des Dionysios Areopagita, angeblich ein Schüler der Apostels Paulus, entstammen jenem Geist und jener Zeit.In der Renaissance standen auf der Gegenseite der epikureische Atomismus, für den ein Schöpfergott keine brauchbare Naturtheorie begründen konnte, und zwei Strömungen des Aristotelismus: der Averroismus (nach dem Araber Averroes), der die Probleme der Seele mit dem Konzept einer einheitlichen Seele aller Menschen lösen wollte, und der Alexandrismus (nach dem griechischen Kommentator Alexander von Aphrodisias), der die Seele des einzelnen Menschen für sterblich erklärte. Beide Aristotelismen führten zu der Feststellung, dass wichtige christliche Dogmen philosophisch - jedenfalls mit Aristoteles - nicht zu beweisen waren.Dagegen traten die Neuplatoniker an, um das Christentum philosophisch zu beweisen. Der prominenteste Vertreter war der Florentiner Ficino. Er übersetzte die hermetischen Schriften, den ganzen Platon und Plotin sowie andere platonische Schriften ins Lateinische und kommentierte sie. Außerdem verfasste er ein medizinisches Lehrbuch »Über das vom Himmel zu erwerbende Leben«, das astrologische beziehungsweise astromedizinische Theorien und Vorschriften enthält. Sie setzen voraus, dass den Sternen auf der Erde Pflanzen und Steine entsprechen und dass die Sterne Einfluss auf das irdische Geschehen nehmen. Durch das verstärkte Interesse an den alten Sprachen wurden Humanisten wie Johannes Reuchlin mit der jüdischen Mystik, der Kabbala, bekannt. Da diese dem Wort und der Schrift besonderen Rang zumaß, eignete sie sich sowohl für christliche Spekulationen über die Macht des Wortes - der (griechische) Logos als Geistprinzip in der Welt - als auch zur Theorie der Magie. Zwei bedeutende Schriften der Renaissance fassten die hier grob skizzierte Mischung von Theorien und Praktiken zusammen: die »900 Thesen« des Giovanni Pico della Mirandola und die »okkulte Philosophie« des Agrippa von Nettesheim.Giovanni Pico hatte sowohl scholastische Philosophie in Paris als auch den christlichen Platonismus Ficinos, die Aristoteliker und die Kabbala studiert. Er zog daraus die Konsequenz, dass alle diese heterogenen Theorien zur Übereinstimmung zu bringen seien. In seiner berühmten Rede »Über die Würde des Menschen« begründete er das mit der metaphysischen Freiheit des Menschen, die ihn gewissermaßen aus der Schöpfung herausstellt und seine eigene Perspektive wählen lässt. Für die Philosophie als Forschungsgebiet formulierte er deshalb einen radikalen Eklektizismus, der in allen, auch den unterschiedlichsten Denkformen noch Elemente von Wahrheit entdeckt. Nach Art einer scholastischen Disputation stellte er dann 900 Thesen auf, die er 1486 in einer öffentlichen Disputation verteidigen wollte, vom Papst jedoch verboten wurde. Diese Thesen enthalten Lehrsätze von antiken und mittelalterlichen Aristotelikern, von Platonikern, aus den hermetischen, pythagoreischen und chaldäischen Schriften, aus Astrologie, Magie und Kabbala und stellen ein programatisches Gerüst seines Wissens dar. Da die Verteidigung der Thesen nicht stattfand, fällt es heute schwer, diese Liste zu interpretieren. Dennoch ist sie wichtig als Dokument dafür, dass die Explosion der Erklärungsmuster unter der Voraussetzung der Einheit des Geistes und der Potenz des Menschen in Eklektizismus münden kann.Ein nützliches Handbuch praktischer Weisheit hat der aus Köln stammende Agrippa von Nettesheim rund 50 Jahre später vorgelegt. Agrippa hatte in Köln und Paris studiert und war als Arzt und Jurist tätig. Sein besonderes Interesse galt den heute als okkult bezeichneten Wissenschaften. Schon in jungen Jahren fasste er sein Wissen in einem Kompendium »Über die verborgene Philosophie« (»De occulta philosophia«) zusammen, das in Handschriften kursierte. Um sich gegen Vorwürfe zu schützen, veröffentlichte er 1533 eine gedruckte und verbesserte Fassung.In drei Büchern behandelt das Werk zuerst das Wirken der Geister in der Materie und die natürlichen Kräfte; die Verknüpfung zwischen Himmel und Erde sowie die Einflüsse der einzelnen Himmelskörper auf die irdischen Körper; die Wirkung von Giften, Steinen, Blicken, Gesten und die Vorhersagen aus verschiedenen Naturerscheinungen; das Verhältnis von Seele und Leib im Menschen und die magische Kraft der Sprache. Im zweiten Buch folgt die Zahlenmystik und die Macht der Musik; sodann die magischen Einflüsse von Sonne, Mond und Sternzeichen sowie die Weltseele, die Himmel und Erde verbindet. Das dritte Buch befasst sich mit dem kultischen oder religiösen Aspekt der Astromagie, wozu auch gehört, die christliche Theologie als Grundlage aller magischen Praktiken zu erweisen, um dann weiter über heidnische Götter, die Engel und Dämonen zu berichten, ferner über die Stufen der Seelen bis zu den einzelnen Menschen und deren besonderen Fähigkeiten.Die Leistung Agrippas liegt nicht allein darin, die gängigsten okkulten Wissenschaften zusammenzufassen, sondern auch eine rationale Erklärung anzubieten. Grundlage ist immer die Annahme verborgen wirksamer Kräfte in den Dingen. Sie haben ihren Ursprung in den Sternen oder in den verschiedenen Formen von Seele. Deshalb sind sie »durch Beobachtung und Vermutung zu erforschen«. So ist bekannt, dass Feuer alles in Feuer verwandelt, oder dass bei der Nahrungsaufnahme Lebewesen nicht in Pflanzen sondern diese in Fleisch umgewandelt werden: empirische Belege dafür, dass nicht nur Gleiches zu Gleichem strebt, sondern alle Dinge Kräfte auf andere Dinge übertragen können. Daneben steht für Agrippa außer Zweifel, dass auch die Sprache in den von Menschen hervorgebrachten Worten Wirkkräfte enthält. So wie das Wort Sprecher und Hörer verbindet und von dem Einen auf den Anderen Einfluss nimmt, indem nicht bloß der intellektuelle Inhalt, sondern auch die »Energie« des Sprechenden auf den Aufnehmenden hinüberfließt, so lässt sich mit der Potenz des Wortes nicht nur der Andere, sondern sogar etwas Unbelebtes beeinflussen und verändern. Mit dieser Theorie erhalten Zauberworte eine rationale Begründung.Für die Zahlenmystik gilt ein ähnliches Erklärungsmuster. Bekanntlich ist der Zusammenhang aller natürlichen und übernatürlichen Dinge und Erscheinungen in Zahlenverhältnissen darstellbar. Zahlen sind also wirksam, obwohl sie nicht sichtbar sind. Schon Pythagoras, aber auch Platon und die Platoniker haben in Zahlenverhältnissen die Grundstruktur der Welt gesehen. Allerdings meinten sie damit die »rationale und formale, nicht die materiale, sichtbare oder gesprochene Zahl der rechnenden Händler«, also Zahlen als Bausteine oder innere Kräfte der Natur und der Geister. Diesen müssen Kräfte innewohnen, die vom Magier angewandt werden können. Es gilt dann, die Wirkweise solcher Zahlen in allen Dingen aufzuspüren. Ein Beispiel Agrippas: Die Eins ist in der »archetypischen Welt«, dem Urbild der Welt, so viel wie Gott als Quelle aller Kräfte und Gewalten. (In der Kabbala vertritt das hebräische Iod, dargestellt »'« ähnlich einem lateinischen Apostroph, den unaussprechlichen Namen Gottes.) In der Welt der Geister entspricht die Eins der Weltseele, da sie von Gott als Erstes geschaffen wurde; am Himmel ist es die Sonne als Quelle des Lichts und König der Sterne; bei den Elementen ist es der Stein der Weisen, der in sich alle natürlichen und übernatürlichen Kräfte bündelt und auf dessen Suche sich alle Energien der Alchimisten und Magier konzentrieren; im Menschen, dem Mikrokosmos, ist es das Herz, das als Erstes lebt und als Letztes stirbt; in der Unterwelt schließlich ist die Eins in Luzifer, dem Fürsten der Rebellion der Engel und der Finsternis. Dieses Schema wird bis zur Zwölf durchgeführt, hat aber, wie Agrippa selbst sagt, nichts mit der rechnenden und messenden Mathematik zu tun. Es ist nur eines unter vielen Theorieschemata, das die Möglichkeit magischen Operierens plausibel machen soll.Agrippa hat Zweifel an seinen Theorien nicht nur für möglich gehalten, sondern in einer Schrift über »Die Ungewissheit und Sinnlosigkeit aller Wissenschaften und Techniken und den Vorrang des Gotteswortes« sogar alle wissenschaftlichen Bemühungen heruntergemacht - angesichts der Endlichkeit des menschlichen Daseins, das nur im Glauben an die Offenbarung zur Ruhe kommen kann. Er hat sich auch gegen den Hexenglauben gewandt, indem er mit einem juristischen Gutachten eine Frau in Metz aus einem Hexenprozess rettete.Obwohl man nicht umhin kann, Brüche in der okkulten Philosophie auszumachen, sollte man doch zwei Aspekte würdigen: die philosophische Absicht und den empirischen Ansatz. Zunächst wollte Agrippa die verschiedensten okkulten Wissenschaften in ein einheitliches Lehrgebäude einbinden, um zwischen den unterschiedlichen theoretischen Modellen wie Substanzlehre, Seelenlehre, Mathematik, Astronomie und Naturlehre zu vermitteln. Der tiefste Graben trennte die philosophischen Naturtheorien von den empirischen beziehungsweise praktischen Erfahrungen der Ärzte, Alchimisten oder Astrologen. Dies konnte seiner Meinung nach nur überwunden werden, wenn von einer Einheit der Natur ausgegangen wird, die nicht bloße Theorie bleibt, sondern eine reale Grundlage für die Einheit von wissenschaftlichem Denken und den Gegenständen der Theorie darstellt. Unter anderen Voraussetzungen aber durchaus modern formulierte Agrippa bereits das heutige Desiderat einer ganzheitlichen Natursicht, in der jedes Wirken des technisch operierenden Menschen auf den Zusammenhang und die Folgen für das Ganze hin betrachtet wird. Ganzheitstiftend war für Agrippa wie für viele Renaissance-Denker die Geistseele, die alles durchwalten und die Harmonie der verschiedenen Ebenen erhalten kann. Ihr wohnt eine Kraft inne, die sich in unendlich vielen Formen sichtbar zeigt und die auch Grundlage allen technischen Werkens ist. Es war deshalb konsequent, dass noch Isaac Newton sich mit solchen magischen Theorien befasste, während er seinen rein mathematischen Begriff der Kraft entwickelte, der bis ins 20. Jahrhundert die Einheit der wissenschaftlichen Physik stiftete.Auch der empirische Aspekt der okkulten Philosophie verweist in die Moderne. Beobachtung und Hypothese sind die heuristischen Prinzipien der wissenschaftlichen Magie, denn die Hypothesen - so abstrus sie erscheinen mögen - steuern die beobachteten Daten, sie sind aber wertlos, wenn sie nicht durch Empirie bestätigt werden. Deshalb waren manche Naturphilosophen der Renaissance zugleich auch Erfinder und Entdecker. Giovanni Battista Della Porta, Autor einer »Magia naturalis«, entwarf eine Physiognomik, eine Systematik der am Gesicht ablesbaren Charaktereigenschaften, und erfand ein Teleskop. Geronimo Cardano machte »Subtilität« zu einem universalen Naturbegriff und befasste sich mit Mathematik und Naturkunde. Nach ihm ist die Kardanwelle benannt. Allerdings ist das moderne wissenschaftlich-technische Weltbild von mathematisch-rationaler Theorie und Empirie geprägt, für die als erster gewöhnlich Galileo Galilei steht, der mit neuen astronomischen Instrumenten, mit technischen Experimenten und mit der Anwendung von Berechnungen zu neuen Ergebnissen kommt (so die Entdeckung der Jupitermonde oder die Fallgesetze). Sein berühmtes Diktum, das Buch der Natur sei in Zahlen geschrieben, bezeichnet den Umbruch von einer theologisch-spekulativen zu einer empirisch-experimentellen Naturforschung. Aus dieser Sicht sind die magischen Theorien und Praktiken nicht Aberglaube oder gar Unfug, sondern eine Übergangsphase von der bloßen Spekulation zur systematischen Forschung. Francis Bacon hat dafür die Erklärung gefunden. Als die Philosophen die scholastisch-aristotelische Substanzlehre aufgegeben hatten, die sich nur auf eine schmale empirische Basis stützte, machten sie sich zwar ernsthaft an die Erfahrung heran, zogen aber voreilige Schlüsse auf allgemeine Prinzipien in den Dingen. Das sind genau die Renaissance-Magier. Dem will Bacon abhelfen, indem er eine systematisch organisierte Empirie fordert.Prof. Dr. Paul Richard BlumBuck, August: Humanismus. Seine europäische Entwicklung in Dokumenten und Darstellungen. Freiburg im Breisgau u. a. 1987.
Universal-Lexikon. 2012.